Der Abdruck des folgenden Textes erfolgt mit der freundlichen Genehmigung von Herrn Professor Rüdiger Görner, London

Über die Handschrift und andere Bilder

 

 

I

 

Nur schreibend haben wir das Wort in der verlängerten Hand. Stefan Zweig, ein bedeutender Autographensammler, sprach vom Schreibstift als einem „sechsten Finger“. Er äußerte diesen Vergleich, als er versuchte, Holbeins bekanntestes Gemälde des Erasmus von Rotterdam zu beschreiben, das den Moment des Schreibaktes einfängt. Zweig weiter: „[…] großartig gelangt in dieser Darstellung der sonst unbelauschbare Moment der chemischen Kraftumschaltung von geistiger Materie zu Form und Schrift zur Erscheinung.“ In der Schrift verkörpere sich der Gedanke steht bei Thomas Carlyle zu lesen.

 

Schrift bezeugt einen Transformationsprozess: ein geistiger Impuls wird überprüfbar. Im Verschriftlichen legt der Gedanke Spuren, die es erlauben, ihm nachzugehen, wobei wir dieser Spur unsere Charakterprägung buchstäblich einschreiben, ihr Schwung verleihen oder ihr unsere eigene Krakeligkeit zumuten.

Was lesen wir in die Schrift eines Menschen hinein? Was verrät sie uns wirklich? Handschriften sind alles nur nicht konsistent. Sie liefern Erscheinungsbilder verlängerter Schreibmomente, vor allem aber Gedankenzeichen. Die Skala reicht vom Einkaufszettel (auf dessen Rückseite Elias Canetti literarische Einfälle während des Lebensmitteleinkaufs zu notieren pflegte) bis zum kalligraphischen Kunstwerk, von der maßvoll gestalteten Manuskriptseite, die Thomas Mann vornehmlich auf rautiertem Papier zu schreiben pflegte, bis zum Tumult der Zeichen in Beethovens Konversationsheften. Überhaupt die Komponisten, die Maler und Zeichner, die mit mindestens zwei Zeichensystemen arbeiten. Man vergleiche eine Partiturseite Mozarts mit einer seiner Briefseiten: wie er die Viertel-und Achtelnotenfähnchen setzt spiegelt sich im gespaltenen Schreibansatz des kleinen p.

 

II

 

Ist ein schöneres Wort vorstellbar als jenes wiederum von Stefan Zweig geprägte, „die Stimme des Stiftes“? Denn das ist doch eine Handschrift auch: Partitur eines Denkens, Sagens, Wollens. Handschriftlich tasten wir uns vor ins Unbekannte der Leere des Blattes, nehmen Fühlung auf mit seinem Weiß, durchziehen es mit unseren Zeichen, explorieren den flachen Raum, um ihn – beschreibend - Tiefenschärfe zu geben.

Ein seltsames Wort, beschreiben. Man beschreibt ein Blatt, beschichtet es, wenn man so will, mit Schrift. Doch es meint auch schildern, erzählen. Wenn wir ein Blatt beschreiben, schildern wir damit denn also auch den Zustand seiner Leere, in dem es unsere Schriftzeichen vorgefunden hatten, die Erwartung mit der jedes weiße Blatt uns begegnet, begierig, unsere Zeichen zu transportieren, durch sie etwas Sinn zu erhalten oder sich in seiner Unsinnigkeit bestätigt zu sehen?

Wir? Kein Personalpronomen könnte im Verhältnis zur Handschrift unpassender sein als eben wir; denn was wäre persönlicher als eben diese Schriftzeichen. Es sei denn man dächte an die Kopisten früherer Jahrhunderte, die Schreiber in den Klöstern und Kontoren.

Aber erkenne ich mich in meiner Schrift wieder? Oder befremdet sie, vergleichbar der Erfahrung, wenn man seine eigene Stimme in einer Tonaufzeichnung hört? Bin ich meine Schrift? Doch wie die unzähligen Streichungen, das Überschreiben, das Radieren werten, diese Zumutungen, wenn einen Worte von eigener Hand anstarren, nein, ins Auge fallen, zur Irritation werden. Das kann im Ausnahmefall zum wörtlich verstandenen Schriftwechsel führen, zur Veränderung der Handschrift, zu der sich etwa Rilke erzogen hatte.

 

III

 

Von der Schrift ins Ornament, in die Kunstform. Schrift ist Hand-Werk. Mit ihr und ihrer Handwerklichkeit verbindet sich eine Illusion, jene nämlich die Worte in der Hand zu haben, im Griff. Die Handschrift als der dünne Schatten des Gedankens; die Kalligraphie als dessen ornamentierter Schatten.

Man kann das Argument auch drehen, und zwar in dem Sinne, dass man das Leben dem bereits Geschriebenen folgen sieht. Es ist ein Argument, das sich in Botho Strauß’ Buch Fehler des Kopisten findet, die Vorstellung nämlich, die Tradition reiße, wenn der Kopist Fehler mache beim Überliefern der Kulturdinge, der Literatur zumal. Die grosse Literatur als Grammophonplatte: wir leben ihren Rillen nach, verlebendigen sie dadurch aber auch.

Die Ägypter wussten schon, weshalb sie einen Gott hatten, dem das gesamte Schreibwesen unterstellt war, Thot oder Tehut im oberägyptischen Kultort Hermopolis beheimatet. Thot war „Herrscher der Bücher“, der Bibliotheken, für die Ägypter ‚Lebensorte’. Thots Kopf ist der eines Ibis’; der Schnabel scheint auch als Griffel brauchbar. Thot wird meist schreitend dargestellt, als gehe er seinem Schreiben, seinen Zeichen entlang oder in diese ein, als ergehe er sich deren Bedeutung. Wenn ich Thots betrachte, fühle ich mich immer an jene schulische Schreibsituation erinnert, eine Grundschulerfahrung, die durch nichts ersetzt werden kann: Das Schreibenlernen auf der Schiefertafel, die man mit einem besonderen Tafelschoner beim Transport im Schulranzen schützte. Das leichte Kratzen beim Schreiben mit dem Griffel, dessen verschiedene Härtegrade jene der Bleistifte vorwegnahmen. Griffel des Härtegrades eins konnten markerschütternd kreischen; aber mit ihnen ließ sich besonders fein schreiben. Wischen ließen sich die weichen Griffelschreibspuren am besten; und aus diesem weißgrauen Schlierenwesen auf der Tafel konnten kleine Bilder entstehen, wenn man sie wortabwesend mit bunter Kreide bearbeitete. Tintenkleckse übernahmen später diese Funktion. Überhaupt dieser Übergang vom Griffel zum Federhalter, ab Klasse zwei zum Füllfederhalter. Mir hatte mein Lehrer oft die Aufgabe zugewiesen, Tinte in Kannen beim Hausmeister zu holen und damit die in die Schulbänke eingelassenen Tintenfässchen zu füllen; ich empfand das als Auszeichnung. Allein die Vorstellung was mit all dieser Tinte alles geschrieben werden würde von meinen Mitschülern und mir. Die große Tintenkanne des Hausmeisters hielt dieser unter Verschluss; sie befand sich in einem kleinen Nebenraum des riesigen Kohlenkellers. Der gewichtig auftretende, etwas geschwärzt aussehende Hausmeister mit leichter Gehbehinderung, er hieß Ketterer, was in mir unheimliche Knecht Rupprecht/Kettenrassler und Kerkermeister-Assoziationen auslöste, ein finsterer Geselle also, meinte es aber ganz entgegen meiner Befürchtungen, die bei jedem Tintengang sich aufs Neue bildeten, gut mit mir. Schreibt jetzt fleißig, sagte er jedes Mal nach dem Nachfüllen der Kanne. Es ist geradezu fahrlässig, dass heutige Grundschüler um solche unschätzbaren Erfahrungen gebracht werden, die ihnen etwas von der Materialität des Schreibprozesses vermitteln konnten. Denn sie erfahren das Schreiben nur noch als Fingerübungen auf Tastaturen mit virtuellen Ergebnissen. Die Prozesse des Streichens, Korrigierens, die zum Wichtigsten beim Schreiben gehören, können sie nur noch als simple und folgenlose Bedienung der Löschtaste begreifen. Allenfalls dann wenn ein Text ‚abstürzt’, ins virtuelle Nichts fällt, ohne abgespeichert gewesen zu sein, allenfalls dann gewinnen wir wieder eine Vorstellung davon, wie herausfordernd das Schreiben sein kann.

 

V

 

Die digitale Auflösung, das schriftliche Persönlichkeitsbild als Pixel, die Handschrift als Relikt des Subjekts, als Erinnerung an einen selbst. Sie gehen einher: das Verschwinden des Kopfrechnens und der Handschrift; letzteres spiegelt das mangelnde Vertrauen zur eigenen Hand. Handschriftenproben bei Bewerbungen gelten heute als unstatthaft. Notizen tippt, pardon keyt man in sein Mobilgerät. Das wertvolle Geschenk in Maroquin gebundene Notizbuch, eventuell mit marmoriertem Papier und Strukturschnitt, bleibt unbenutzt als Schreibtischdekoration neben dem Nobelrechner und kabellosem Keyboard, wobei die sinnlichste Aktivität, die mit dem Schreibakt verbunden ist, sich auf den Mausklick reduziert.

Eine Abschweifung aus gegebenem Anlass: Berlin, dieser Tage; im Kleist-Jahr. In einer Ausstellung im Ephraim-Palais im Nikolaiviertel, dem alten Herz dieses urbanen Faszinosums an Havel und Spree. In hellgrauen Vitrinen zahlreiche Handschriften Heinrichs von Kleist, Briefe, die Urschrift der Familie Ghonorez (später Schroffenstein), ein Familientrauma als Stück. Diese Handschriften – entstanden zwischen 1801 und 1811 – wirken geradezu ebenmäßig; eine kleine Schrift, die sich später weitet und weiter schönt; betont runde Schwingungen – eine bedingt offene Handschrift, seltsam maßvoll trotz des Maßlosen, das ihr Schreiber empfand, durchlitt, erfahren wollte. Das kleine s gleicht kleinen Schwalben, die weiterfliegen wollen, über den Satz, den Papierbogenrand hinaus. Es ist eine Schrift, die den bloßen Betrachter oder aufmerksamen Leser in sich hineinzieht wie in ein magisches Gewebe mit durchlässigen Maschen. Ich stelle mir Kleists Braut vor, wie sie diese Briefe sieht, bevor sie sie liest, wie ein Stück Gaze, das ihr auf den Tisch geweht wurde von einem Wind aus Ferne. Anforderungen enthielten sie, Bildungsaufgaben, Zumutungen wie diese, eine Landfrau irgendwo in der ihr völlig unbekannten Schweiz zu werden, einfach so, alles stehen und liegen lassend in ihrem gemütlichen Heim in Frankfurt an der Oder. Sätze, die ihr Kleist wie Verstrickungen angelegt hat, damit sich ihr Verstand und ihre Sinne darin verfangen sollten. Sätze, Angelschnüren gleich mit einem Gefühlswort als Köder. Doch die Handschrift verrät nichts von dieser Erregung hinter ihr; zügig wirkt sie, zielstrebig entschlossen gar, und das bei einem jungen Menschen, der sich so gar nicht über seine Richtung sich im klaren war.

Und dann diese Reinschriften aus späteren Jahren: Kleist als Kanzlist mit feinster Feder, kein Tintenklecks, keine schiefe Satzlinie. Überhaupt – auch in den Manuskripten – wenig Streichungen, was überrascht bei diesem Dichter und Journalisten und kurzzeitigen Staatsdiener, der sich immer wie auf Probe fühlte und von anderen auch so behandelt wurde. Oder stellte er seine Handschrift auf die Probe, Brief um Brief, Manuskript um Manuskript, Zeile um Zeile, ob sie seine inneren Spannungen bewältigen oder wenigstens camouflieren könne.

Verrät die Handschrift ihren Schreiber wirklich? Was in uns korrespondiert mit ihr? Innere Schwingungen, Irritationen? Welches Bild von uns entwirft unsere Schrift? Ein Spiegelbild? So lange ist es noch nicht her, dass in den ersten Schulklassen die Schrift benotet wurde. Aber nach welchem Maßstab? Die Buchstaben hatten sich an bestimmte Linien zu halten. Schleifen und Bögen, die fs und ps durften die Linien nur berühren. Überschneidungen wurden geahndet. Das für bestimmte Klassenstufen jeweils spezifisch linierte Papier wurde zum Maß allen Schreibens. Das kleine t sei ein Hakenstecken mit Krawättchen, so sagte man uns auf der Grundschule; und ein f eben ein umgekehrter Hakenstecken mit Krawättchen. Das klang niedlich und erbrachte eine Vorformung des Schreibens, das auf Akkuratesse und gestochene Schärfe zu achten hatte. Nur keine individuellen Schnörkel; solche konnte man sich erst viel später leisten. Auf diese Weise sollten auch die Linkshänder unter uns auf den Pfad der rechten Tugend gebracht werden. Nur keine Schieflagen der Buchstaben und Worte. Vielleicht beneidete ich deswegen schon früh vor allem Schiller um seine Handschrift, die so frei wirkte, so gefühlsreich, so wenig linientreu.

Irgendwann kam dann der Moment – als man sich von den linierten Heften zu verabschieden hatte und auf unliniertes Papier zu schreiben begann. Es war wie ein Schwimmen auf offenem Meer. Manche schoben ein kräftiges Linienpapier unter den Schreibbogen; aber wie alles Untergeschobene wirkte dies eine Spur betrügerisch. Man täuschte sich selbst über das eigene Unvermögen hinweg, handschriftlich Linie zu halten.

Es war auch in jener Zeit, als ich zum ersten Mal eine Abbildung von Leonardo da Vincis Konstruktionsbeschreibungen in Spiegelschrift zu sehen bekam. Schien das nicht das Ideal für die Zukunft? Vielleicht zeigte sich so die Schrift der Schriften: das Bild innerster Welten als Spiegelschrift, geschrieben mit unsichtbarer Tinte.

 

Auszüge aus: Rüdiger Görner, Über die Handschrift und andere Bilder, in Jürgen Thaler (Hg.),Im Auftrag der Schrift, Kehrer Heidelberg, 2012