Der Abdruck des folgenden Textes erfolgt mit der freundlichen Genehmigung von PROF. DR. HANS DIETER ZIMMERMANN, Berlin

Diese Rede wurde am 12.10.2007 im Rahmen einer Veranstaltung der Konrad Adenauer Stiftung gehalten und ist eine geänderte Fassung eines Kapitals aus dem Buch "Literaturbetrieb Ost/West. Die Spaltung der deutschen Literatur von 1948 bis 1998", das 2000 bei Kohlhammer in Stuttgart erschienen ist.

 

DIE BIERMANN-AUSBÜRGERUNG UND IHRE FOLGEN

Vielen Dank für die Einladung. Ich muss gestehen, ich habe mich wieder eingearbeitet in ein Thema, mit dem ich mich nach 1989 zusammen mit vielen jüngeren und gleichaltrigen Kollegen sehr intensiv befasst habe. Inzwischen ist dieses Thema, so habe ich den Eindruck, ganz aus dem Interesse der literaturwissenschaftlichen Welt entschwunden. Ich habe nur noch ganz selten Studentinnen oder Studenten, die ihre Magister- oder Staatsexamensarbeit über DDR-Schriftsteller schreiben wollen. Es sind dann übrigens in der Regel junge Menschen, die kurz vor dem Ende der DDR geboren wurden, oder doch aus Ost-Berlin kommen. Sie wollen wissen, was da war und schreiben dann darüber. Eine Rückbesinnung soll heute erfolgen auf dieses untergegangene Land, in dem der Auftritt eines Liedermachers so viel bewirken konnte, dass manche sogar meinen, es wäre der Anfang vom Ende der DDR gewesen. Dazu muss man diese DDR noch einmal charakterisieren. Stillstand, meine ich, war die ideale Ordnung des Sozialismus in der DDR, denn jede Bewegung, die nicht von der Partei angeordnet worden war, wurde als Eigenmächtigkeit unterdrückt oder verfolgt. Und was die Partei in 40 Jahren mit immer denselben Losungen anordnete, lief auf nichts anderes hinaus, als auf eine nahezu ununterbrochene Akklamation der Regierung, die für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nahm. Parteitage, Plenarsitzungen, Erster-Mai-Umzüge - alles wiederholte sich Jahr für Jahr und diente demselben Zweck: der Regierung zu bestätigen, wie großartig sie war und den Regierten Unterordnung aufzuerlegen. Wer nicht teilnahm, wurde gerügt oder bestraft - die Kontrolle in den Betrieben und Wohnblöcken funktionierte. Wer teilnahm und stundenlang warten musste, bis er in einem „Hurra“ schreienden Block Menschen an der Tribüne vorbeimarschieren durfte, dem war klar geworden, was er war: fast nichts in den Händen der Partei. Diese rituellen Übungen hatten keinen anderen Sinn, als den Untertanen zu zeigen, dass sie Untertanen waren. Die Erniedrigung ging so weit, dass sie dies auch noch jubelnd zur Kenntnis bringen mussten, und die Partei- und Staatsführung konnte sich bestätigt fühlen. Wie weit sie dem Jubel der Masse glaubte, steht dahin. Dass sie aber die Massen in der Hand hatte, solange diese jubelnd an ihr vorbeizogen, war offensichtlich. Das änderte sich schließlich 1988 / 89. Da diese Partei von Anfang an im Besitze der Wahrheit war, wie sie von den Klassikern des Marxismus-Leninismus verbürgt wurde, musste sie auch im Laufe von 40 Jahren nichts hinzulernen. Sie musste nur die einmal erkannte Wahrheit durchsetzen. Wenn sich Schwierigkeiten ergaben, konnte das nicht an dieser Wahrheit liegen, sondern nur an Widerständen, die zu beseitigen waren. Da die Partei im Lande alles wohl geordnet hatte, konnten diese Widerstände auch nicht aus ihrer Politik entstehen, sie mussten von anderer Seite kommen, vor allem aus dem Westen, wo der Klassenfeind ununterbrochen tätig war, wie die Ideologie der SED dies von ihm verlangte. Wer anderer Meinung war als die Partei, musste „feindlich-negativ“ sein, wie es in den Stasi-Akten immer wieder heißt. Es gab also nur solche, die zustimmten, manchmal mit kleinen Einschränkungen, und solche, die nicht zustimmten, ebenfalls manchmal mit kleinen Einschränkungen, aber diese konnten nur Feinde sein, negative Elemente. So war die SED in ihrer eigenen Ideologie unbeweglich eingeschlossen. Jede spontane, jede kreative, jede individuelle Regung wurde zunichte vor dem Willen der Partei. Je mehr die Partei sich durchsetzte, umso mehr musste sie die Produktivität der Gesellschaft beseitigen. Das ist meine These. Ohne Kreativität keine Produktivität in der Kunst wie im Leben - und Kreativität bringt eben Neues, auch unverhofft Neues. Die SED wollte aber immer nur die Bestätigung des Alten. Da sie selbst nicht produktiv war, lebte sie parasitär von der noch vorhandenen Produktivität der Gesellschaft, auf deren Beseitigung sie gerade aus war: der bürgerlichen Gesellschaft. Als deren Reste aufgezehrt waren, blieben nur noch Ruinen im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Viele alte Städte der DDR waren am Schluss eine Ansammlung von zusammenstürzenden Bauten. „Ruinen schaffen ohne Waffen“ nannte es der Volksmund. Als alles ruiniert war, war auch die DDR am Ende. Die SED hatte sich fast vollständig durchgesetzt gegen die Produktivität der Gesellschaft. Dass diese überhaupt solange funktionierte, lag an der Beharrlichkeit und dem Fleiß der Bevölkerung, die in ihren Nischen tätig war, am Rande der offiziellen Betriebe oder auch in diesen. Das gilt auch für die Literatur. Man kann sich eigentlich nur wundern, dass bei der totalen Reglementierung der Schriftsteller überhaupt nennenswerte Literatur produziert und publiziert wurde. Vieles wurde vernichtet, weil die Kreativität von Autoren schon im Keim erstickt und Menschen ins Unglück getrieben wurden. Ich erinnere an Ines Geipels 1998 publizierten Band „Die Welt ist eine Schachtel“, in der sie das Schicksal von vier Schriftstellerinnen verschiedener Lebensalter - Susanne Kerkhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold und Hannelore Becker – nachzeichnet. Alle vier endeten nach anfänglicher Begeisterung in Depressionen, zwei von ihnen begingen Selbstmord. Jürgen Serke hat 1998 in seinem Band „Zuhause im Exil“ ebenfalls Schicksale solcher Autoren aufgezeigt, die am Rande der Gesellschaft blieben und sich mühsam und standhaft behaupteten, immer beobacht, oft verfolgt, manchmal verhaftet. Joachim Walther und Ines Geipel haben jetzt diese verlorene und verbotene Literatur ans Licht der literarischen Öffentlichkeit gebracht. Man kann also sagen, es gab neben der offiziellen Literatur, also neben der Literatur, die in den staatlichen Verlagen der DDR und in Verlagen der Bundesrepublik erschien, auch eine nicht offizielle Literatur: nicht nur solche, die in Schreibmaschinenvervielfältigung verteilt wurde, sondern auch solche, die überhaupt nicht aus den Schubladen herauskam. Es war damals leicht, in der Öffentlichkeit aufzufallen, wenn man schon einen gewissen Namen hatte, da schon kleine Widersetzlichkeiten von der SED geahndet und von den westlichen Medien aufmerksam und beifällig konstatiert wurden. In einem Land des Stillstands konnten deshalb zwei im Grunde kleine Ereignisse große Wirkungen entfalten - also die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und drei Jahre später, 1979, der Ausschluss von neun Schriftstellern aus dem Schriftstellerverband. Der Ausbürgerung Biermanns war der Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband vorausgegangen. Kunze hatte sein Band "Die wunderbaren Jahre“ in der Bundesrepublik veröffentlicht. Man könnte es eine Kampfansage an die Partei nennen, denn hier schilderte er das Leben in der DDR, wie es war, und nicht, wie es sein sollte. Kunze war seit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 in Prag unter Kontrolle der Partei und der Staatssicherheit und jetzt, nach der Publikation des Bandes, setzte sie nicht nur den inoffiziellen, sondern auch den offiziellen Apparat in Gang. Kunze ist schließlich in die Bundesrepublik ausgereist. Die Staatssicherheit blieb am Ball, wie wir aus den Unterlagen wissen, die er veröffentlicht hat. Am 2. Januar 1968 legte sie eine neue Karte für Kunze an, des3 sen Staatsangehörigkeit nun BRD hieß und dessen Wohnort in Bayern lag. Ein Problem loszuwerden, indem man den Schriftsteller ins feindliche Ausland, also in die Bundesrepublik, entließ, war nicht immer die Taktik der Partei. Peter Huchel, der seit 1963 isoliert und bespitzelt in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam lebte, gestatteten die Funktionäre lange die Ausreise nicht, auch dann noch nicht, als er ins Rentenalter kam, in dem DDR-Bürger auch einmal in den Westen fahren durften, denn dann hatten sie keinen Wert mehr für den Staat. Sie standen nicht mehr im Arbeitsprozess. Blieben sie im Westen, umso besser, denn dann musste die DDR ihre Renten nicht bezahlen. Huchel gelang erst im Frühjahr 1971 nach längeren internationalen Protesten die Ausreise mit seiner Familie. Übrigens, der Generalsekretär der Akademie der Künste der DDR, ein Dr. Karl Hossinger, der als treuer Parteifunktionär Huchel drangsaliert hatte, zog, wie mir Sebastian Kleinschmidt einmal sagte, als er ins Rentenalter kam, auch nach Westen und zwar nach Bayern. Dort war es anscheinend schöner als in der DDR, deren Sozialismus er doch mit aufgebaut hatte. Im Westen war die Rente höher, die er als lang gedienter Angestellter im öffentlichen Dienst natürlich sofort erhielt. Aus den lang andauernden Querelen im Fall Huchel hatte die Partei wohl gelernt. Hinfort entledigte sie sich der unliebsamen Schriftsteller durch Aussiedlung. Die rigorosen Maßnahmen der Partei drängten die Autoren dazu. Später wurde die Übersiedlung auch als Privileg mit Visum, das eine Rückkehr erlaubte, vergeben. Das funktionierte sogar noch besser als die Abschiebung, denn dadurch wurden die Autoren angehalten, die Beziehung zur SED nicht völlig zu kappen. Wer nicht gehen wollte, wie der Liedermacher Wolf Biermann, der wurde ausgebürgert. Das war allerdings ein Novum und blieb es auch, denn es erinnerte an die Praxis der Nationalsozialisten, die auf diese Weise Tausende von missliebigen Bürgern ausgebürgert und zu Staatenlosen gestempelt hatten. Wie wir aus den Unterlagen wissen, war der Versuch, Biermann auszubürgern, etwa seit 1970 in Gange. Man wartete auf eine günstige Gelegenheit, die sich immer wieder doch nicht ergab, bis dann schließlich die IG Metall Wolf Biermann einlud. Und eine Vermutung steht im Raum: Hier könnte Hand in Hand gearbeitet worden sein. Wolf Biermann jedenfalls berichtet, einer der führenden Funktionäre der IG Metall, Jakob Moneta, sei damals, als er – Biermann - von der Gewerkschaft eingeladen wurde, der Anführer der trotzkistischen 4. Internationale in der Bundesrepublik gewesen und sogleich nach dem Ende der DDR als führender Kandidat der PDS in Frankfurt aufgetreten. Biermann folgte also dieser Einladung, und endlich war er draußen. Auf seinem Konzert äußerte er sich kritisch über die Partei- und Staatsführung, aber keineswegs über den Sozialismus. Er drückte sich sehr vorsichtig aus und bestätigt dies auch jetzt, wenn man ihn fragt. Er hat sozusagen „herumgeeiert“, um ihnen keinen Vorwand zu liefern, seine Rückkehr zu verhindern. Er hatte vorher mit seinem Freund Robert Havemann darüber gesprochen. Havemann war davon überzeugt, dass sie das nicht riskieren würden. „Sie werden dich zurücklassen, das Aufsehen wird zu groß sein.“ Zu Kunze, der damals noch unter der Fuchtel der SED stand, sagte Biermann in diesem Konzert in Köln: „Jurek Becker und ich sind Kommunisten. Wir sehen die Schwächen, die Fehler, die verschiedenen Formen bürokratischer Barbareien der DDR bestimmt nicht weniger deutlich als unser Freund Kunze. Aber wir sind der Meinung, dass die DDR trotz alledem eine große Errungenschaft für die deutsche Arbeiterklasse ist, dass sie kostbar ist, dass der Weg des Sozialismus unter Mühen und mit Rück4 schlägen bestritten wird und dass dieses große gesellschaftliche Experiment wichtig ist und weitergeführt werden muss.“ Also auch bei Biermann die ziemlich häufige Formel, Kritik im Detail, Zustimmung im Ganzen, die schon immer und noch eine Weile vielen DDRSchriftstellern das Leben erleichterte. Die Fehler der Regierung waren nicht zu übersehen, also kritisierte man sie mehr oder weniger hinter vorgehaltener Hand, oder auch öffentlich. Aber immer verband man das mit dem obligatorischen Bekenntnis zum Sozialismus. So konnte man halbwegs vor sich selbst und vor der Partei bestehen. Biermann unterschied sich von den anderen nur durch die Schärfe seiner öffentlich vorgetragenen Kritik. „Barbarei“ ist ein starkes Wort, das aber durch das Bekenntnis zur „kostbaren Errungenschaft“ des Sozialismus ausbalanciert wird. Er will es offensichtlich nicht ganz mit den Greisen im Politbüro verderben. Dabei weiß er doch aus langer Erfahrung - er hatte seit 1965 Auftrittsverbot -, dass diese nicht mit sich spaßen ließen. Andererseits war die Kritik von einem sozialistischen Standpunkt aus wiederum gefährlicher für die SED als diejenige eines dezidierten Klassenfeindes. Dies ist, so glaube ich, ein Grund, warum Wolf Biermann für die SED so gefährlich war. Der andere ist natürlich seine Popularität. Trotz des Auftrittsverbots wurden seine Tonbänder überall in der DDR - und übrigens auch in der Bundesrepublik - gespielt und gehört. Der zweite Grund war, er kritisierte die SED auf der Basis ihres eigenen Konzeptes und brachte sie damit in einen Legitimationskonflikt. Die Kritik Reiner Kunzes hat deshalb die SED nicht so getroffen. Das war eben ein Bürgerlicher - weg damit! Aber die Kritik auf der Basis des Sozialismus führte die SED in eine Legitimationskrise. Biermanns Festhalten am Sozialismus hat natürlich mit der Erinnerung an seinen Vater zu tun, der Kommunist und Jude war und deshalb von den Nazis verfolgt und im KZ umgebracht wurde. So hat Biermann viel länger gebraucht als Reiner Kunze, bis er zur Einsicht in das unverbesserliche Elend des Sozialismus kam, fast mehr als 20 Jahre länger. Dass Kunze klüger war als andere und früher als diese zu Einsichten kam, hat ihm nicht gerade Freunde gemacht. Das Eingeständnis, dass man lange dümmer war als andere, fällt niemandem leicht und schon gar nicht uns Intellektuellen, die wir von Amts wegen doch klüger sein sollen und wollen als andere. Und doch, so scheint mir, ist es eine Konstante des intellektuellen Lebens im 20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland: Intellektuelle fallen, nach umfassender Orientierung suchend, leichter auf Ideologien herein als die sogenannten kleinen Leute, die am Alltag orientiert sind, und sie brauchen oft länger als diese, sich davon zu befreien. Hier könnte ich das Beispiel von Hans Werner Richter, dem Begründer der Gruppe 47, nennen. Er schreibt einen Brief an Hans Sahl, einen jüdischen Emigranten, der in den 50iger Jahren nach München heimkehrte und 1956, verzweifelt über die Unbelehrbarkeit der deutschen Linken, nach New York zurückgekehrt ist. Hans Werner Richter schreibt ihm: „Mein Gott, könnte man diesen Idioten von heute, ich meine, den Schriftstellern, doch das Schicksal der literarischen Emigranten bewusst machen, damit sie die gleichen Fehler vermeiden. Aber ich komme langsam zu der Ansicht, dass es nichts Dümmeres auf der Welt gibt, als deutsche Intellektuelle.“ Hans Werner Richter war gerade wieder einmal von Usedom zurückgekommen, wo seine Familie lebte. Er entstammt ja einer Fischerfamilie aus Bansin. Die Fischer dort wussten besser, was der Sozialismus war, als viele Schriftsteller in Berlin, Ost wie West. Denn die Formel, die Wolf Biermann in Köln 1976 gebrauchte, erleichterte ja nicht nur den Schriftstellern in der DDR das Leben, er ermöglichte auch den Linken in Westdeutschland ein bequemes Verhältnis zur DDR. Dass dort vieles in Argen lag, war ja nicht zu leugnen, aber dass sie letztlich das bessere Land - 5 eben antifaschistisch - war und auf dem Weg zum Sozialismus irgendwie, das fanden sie dann doch auch. So konnte diese Haltung entstehen, die alles Missliche in der DDR großzügig hinnahm oder ignorierte und jede kleine Missfälligkeit in der Bundesrepublik hysterisch aufbauschte und drohenden Faschismus an die Wand malte. Hans Werner Richter in dem genannten Brief an Hans Sahl: „Übrigens habe ich eine Sendung geschrieben, "Lenin in Mecklenburg" - Richter schrieb unter Pseudonym, um die Familie in Usedom nicht zu gefährden. - „Diese Sendung "Lenin in Mecklenburg", die einmal in Stuttgart, wenn auch mit großem Unbehagen meiner Freunde gekommen ist, seitdem macht man mir Schwierigkeiten.“ Seine Freunde sagten, das sei Propaganda für Adenauer. 1956 konnte die Sendung nicht im Rundfunk wiederholt werden, weil sie die Situation in der DDR aus eigener Anschauung schilderte und deshalb von den Tonangebenden im Rundfunk als Propaganda für Adenauer eingestuft wurde. Wolf Biermanns Bekenntnis zum kostbaren Gut des Sozialismus hat ihm nicht geholfen. Seine Ausbürgerung wurde am 17. November mit einem Kommentar im Neuen Deutschland erläutert: „massive Angriffe gegen unseren sozialistischen Staat“, die bis zur Aufforderung dieser Ordnung der DDR zu beseitigen gegangen seien, Biermann, der links zu fahren vorgäbe, stehe in Wahrheit rechts usw.. Doch Biermanns Haltung machte auf einige Schriftsteller Eindruck. Es kam zum ersten Mal zu einem öffentlichen Protest von Künstlern gegen eine Maßnahme der SED. Das war 27 Jahre nach ihrer Gründung ein Novum in der Geschichte der DDR. Am 17. November 1976 trafen sich einige Autoren im Haus von Stephan Hermlin und verfassten die Erklärung: „Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter, das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens 18. Brumaire, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann hat selbst nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und fordern die Rücknahme der beschlossenen Maßnahmen.“ Warum stieß diese Forderung auf so viel Unwillen bei der SED? Die Unterzeichner identifizierten sich doch mit der DDR, die sie „unseren sozialistischen Staat“ nannten. Sie wollten keinesfalls dem Klassenfeind nützen, der Biermanns Ausbürgerung gegen die DDR missbrauchte, und sie zitierten den Kirchenvater Karl Marx, der selbst für Kritik bekanntlich wenig zugänglich war. Die Wut war groß bei den parteitreuen Dichtern und ihrer Partei. Denn trotz all dieser Verbeugungen wurde doch nichts anderes als eine gewisse Meinungsfreiheit verlangt für einen widerspenstigen Poeten, jedenfalls dann, wenn er sich zu diesem, unseren Staat bekannte. Und noch ungeheuerlicher: Die unfehlbare Regierung wurde aufgefordert, eine Maßnahme zurückzunehmen. Das war dann auch dem Bildhauer Fritz Cremer zu viel - er wollte nur unterschreiben, wenn anstelle von „fordern“ „bitten“ gesetzt wurde, und so geschah es dann auch. Nun hieß es „und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.“ Diese entschärfte und nahezu harmlose Variante wurde an das Neue Deutschland gegeben und auch an zwei westliche Agenturen. Letztere veröffentlichten den Text natürlich sofort, das Neue Deutschland nicht. Dies führte zu einem Vorwurf gegen die Unterzeichner, nicht gegen das 6 Neue Deutschland. Sie hätten mit ihrer Position dem Klassenfeind in die Hände gespielt. Unterzeichnet haben Sarah Kirsch, Christa Wolf, Gerhard Wolf, Volker Braun, Fritz Cremer, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider und Gerhard Wolf; Erich Arendt und Jurek Becker schlossen sich an. Innerhalb von fünf Tagen protestierten - und dies ist das Novum - über hundert Schriftsteller und Künstler öffentlich gegen eine Maßnahme ihrer Regierung. Deshalb war die Ausbürgerung Biermanns so erschütternd für die DDR, nicht wegen des Presseechos im Westen, damit hatte man gerechnet, sondern wegen der Protestwelle in der DDR. Damit hatte man nicht gerechnet. Viele schlossen sich also der Resolution an, Jürgen Fuchs, Robert Havemann, Manfred Krug, Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger, Eva Maria und Nina Hagen. In Ostberlin und Leipzig wurden Flugblätter verteilt. Eine Solidaritätsbewegung schien zu entstehen, weil einige Schriftsteller einen zaghaften Schritt zur Demokratisierung gewagt hatten. Natürlich begann sofort die „differenzierte Behandlung“ der Unterzeichner, und sofort begannen auch die Solidaritätsadressen „mit unserer Partei und Regierung“, die zuhauf im ND abgedruckt wurden, auch von Künstlern und Schriftstellern wie Helmut Sakowski, Paul Wiens, Erik Neutsch, Günther Dahlke, Harry Türk, Egon Richter. Anna Seghers teilte lediglich mit, dass sie die Protestresolution nicht unterschrieben habe. Das war wieder so eine kluge Geste, mit der sie beiden Seiten deutlich machte, dass sie auf beiden Seiten stand. Sie hat nicht unterschrieben, also ist sie für die Maßnahme der Partei. Sie hat keine Ergebenheitsadresse geschickt, also ist sie nicht ganz so devot wie die anderen Parteitreuen. Fritz Cremer zog nach zwei Tagen seine Unterschrift zurück, Heiner Müller nach zwei Jahren. Jürgen Fuchs wurde aus dem Auto des Regimekritikers Robert Havemann verhaftet, Havemann erhielt Hausarrest. Jürgen Fuchs wurde im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen monatelang gequält, bis er in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, und auch dort ließ die Stasi ihn nicht in Ruhe. Stephan Hermlin dagegen konnte mit Partei- und Staatsführer Honecker am 22. November ein Gespräch über die Angelegenheiten führen, wie Stefan Heym erzählt. Auf die Frage, so Stefan Heym, ob und wann Biermann wieder ins Land dürfe - und Biermann hat mindestens zwei Jahre lang gehofft, er könne wieder zurückkehren - habe Honecker geantwortet: „Nie“. Natürlich gäbe es in der Politik niemals ein Nie, so Honecker, aber für absehbare Zukunft sei die Rückkehr ausgeschlossen. Im Übrigen habe er, Honecker, selbst im Politbüro für Ausbürgerung gestimmt. Eine Minderheit habe dafür plädiert, Biermann einzusperren. Er selbst habe lange im Zuchthaus gesessen und wolle daher vermeiden, dass Dichter und Schriftsteller eingelocht würden. Überhaupt sei er für Menschlichkeit, für einen menschlichen Strafvollzug. Staatsmännische Worte, die Hermlin hier überliefert. Jürgen Fuchs jedenfalls schien nicht zu den Dichtern zu gehören, denn er wurde eingelocht und einige andere auch. Die Menschlichkeit Honeckers galt anscheinend nur für Schriftsteller, die eine gewisse Prominenz hatten, und die verdankten sie den westlichen Medien. Deshalb ist sie von Taktik nicht zu unterscheiden. Wo die Partei durch westliche Medien kontrolliert werden konnte, war sie vorsichtig, wo nicht, griff sie hart durch, siehe etwa Annegret Gollin und Jürgen Fuchs. Diese Einsicht, und das muss dann auch noch erwähnt werden, machte sich Hannes Schwenger, damals Vorsitzender des Bundesdeutschen Schriftstellerbandes VS in West-Berlin zu nutze. Er gründete zusammen mit Manfred Wilke ein „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“, dem sich bald viele prominente Autoren und Künstler des Westens anschlos7 sen, z.B. Heinrich Böll, Max Frisch, Robert Jungk, Peter Schneider und Alexander Mitscherlich. Das Schutzkomitee machte auf die Verhaftung von unbekannten Bürgern der DDR aufmerksam, um sie dadurch zu schützen und ihre Freilassung zu erreichen, z.B. der Liedermacher Gerulf Pannach, Uwe Behr, Marian Kierstein, Thomas Auerbach, Bernd Markowski und andere. Durch Pressemitteilungen und Pressekonferenzen und mit den Namen seiner prominenten Unterzeichner erreichte das Schutzkomitee eine Öffentlichkeit im Westen, die den Inhaftierten im Osten zu Hilfe kam. Die meisten wurden freigelassen und in den Westen ausgewiesen. Ohne diese Öffentlichkeit, die Schwenger mit seinem Schutzkomitee erreichte, wären sie den Organen der DDR und deren „menschlichem Strafvollzug“ hilflos ausgeliefert gewesen. Im Übrigen war auch Hannes Schwenger ein Linker, der für den Sozialismus eintrat, nicht gerade den der DDR, weil er auch demokratische Freiheiten wollte. Das Schutzkomitee war also, wie sein Titel "Freiheit und Sozialismus" sagte, bestrebt, nicht in die böse, antikommunistische Ecke abgedrängt zu werden. Es hat ihm nicht viel geholfen. Natürlich war dadurch der Angriff des Schutzkomitees wiederum für die SED schwerer zu verkraften als der eines „bürgerlichen“ Komitees. Aus Sicht ihrer Stasibeobachter und Verfolger waren Schwenger, Wilke und ihre Freunde doch nur Rechte. Der Rechtsanwalt, den das Büro von Otto Schily dem Schutzkomitee zur Verfügung stellte, war, wie sich nach der Wende herausstellte, ein Stasiagent. Er machte genaue Aufzeichnungen in der Wohnung, die dann auch in Schwengers Abwesenheit von Stasileuten aufgesucht wurde. Ich glaube, besagter Anwalt lebt heute auch in Bayern. Das ist ein schönes Land, Bayern. Nach der Biermann-Ausbürgerung verließen zahlreiche Schriftsteller und Künstler die DDR, darunter schließlich auch Jurek Becker und Günter Kunert, beide mit einem Dauervisum der DDR. Die Ausreise der bekannten Lyrikerin Sarah Kirsch, die man vorher unter Druck gesetzt hatte, markierte für Franz Fühmann und Christa Wolf das Ende ihrer Mitarbeit im Vorstand des Schriftstellerverbandes. In Briefen an dessen Präsidium erklärten sie ihren Austritt. Christa Wolf: „Meine Hoffnung ist erschöpft, ich erkläre hiermit meinen Austritt aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR.“ Nicht aus dem Schriftstellerverband traten sie aus, sondern aus dem Vorstand. Wer aus dem Schriftstellerverband austrat, erhielt nicht nur Berufsverbot, sondern wurde ruiniert mitsamt seiner der Familie, denn er erhielt keine Einnahmen, keine Rente, keine Reise, kein Auto etc. Ich glaube, ich muss nicht erzählen, was es bedeutete, wenn man aus dem Schriftstellerverband austrat oder ausgeschlossen wurde. Franz Führmann: „Sarah Kirsch wird uns also verlassen, Bernd Jentzsch ist nicht mehr zurückgekommen, Jurek Becker ist aus dem Verband ausgetreten. Er ist ausgetreten und ich begehre an weiterem nicht Schuld zu sein. Ich will nicht im Vorstand eines Verbandes arbeiten, dem solche Verluste nebensächlich erscheinen.“ Hermann Kant nahm spät dazu Stellung. Auf dem Schriftstellerkongress im Mai 1978 hielt er das Hauptreferat, in dem er auch auf die Ausgereisten zu sprechen kam. Zitat: "Wer aus sozialistischem Leseland nach Bestseller-Country verzieht, macht eine Rückwärtsbewegung, betreibt Zurücknahme und wir wissen, er war schon einmal weiter, er war schon einmal eine historische Epoche weiter.“ Da der Sozialismus in der DDR eine Epoche darstellt, die über die des bürgerlichen Kapitalismus hinausgeht, ist jeder, der dort lebt, schon einmal eine Epoche weiter, gleichgültig, was auch immer in der DDR geschieht. Reiner Kunze, der gerade den Büchner-Preis der Darmstädter Akademie erhalten hatte, war Hermann Kant eine besondere Bemerkung wert. „Wenn die Darmstädter Akademie ihren Literaturpreis auf den Kunze bringt, muss sie selber sehen, wie sie damit zurecht kommt. Aber lassen wir das. Kommt Zeit, vergeht Unrat 8 und schließlich sind Fehlgriffe bei Preisverleihungen kein Darmstädter Privileg.“ Nach dieser Rede wurde Hermann Kant als Nachfolger von Anna Seghers zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes gewählt. Der verdiente Gerhard Henniger wurde in seinem Amt als Erster Sekretär bestätigt. Meine Damen und Herren, ich ende hier. Es könnte noch ein Blick folgen auf die Geschichte von 1979, die ja gut dokumentiert ist. Es wurde das Gesetz geändert, Stefan Heym wurde wegen eines Devisenvergehens verurteilt, und schließlich wurden neun Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Viele von denen, die ausgeschlossen wurden, sind dann auch ausgereist. Bartsch, Endler, Poche, Schlesinger, Schubert, Hein, Jakobs, Schneider und Seyppel wurden ausgeschlossen. Für Erich Loest war der Bezirksverband Leipzig zuständig, in dem sich keine Mehrheit gegen ihn fand. Er verließ trotzdem 1980 die DDR, und da erst scheint ihm aufgefallen zu sein, dass diese doch nicht ganz so gut war.  Ich habe neulich mit Wolf Biermann gesprochen. Er sagte zu mir, nachdem er dann in der Bundesrepublik war, hätte er eigentlich vier Jahre nichts produzieren und an die Öffentlichkeit bringen sollen, denn er kannte das Land gar nicht. Und manches von dem, was er dann gesagt hat, war ja auch etwas merkwürdig. Aber er hätte nicht schweigen können. Er hätte sich behaupten müssen, auch um der SED keine Genugtuung zu verleihen. Ich lese nur die erste Strophe eines Gedichtes von Wolf Biermann, das „Heimweh“ heißt, aus dem vor zwei Jahren erschienen Band  „Heimat. Neue Gedichte“:

"Die heile Heimat Utopie habe ich verloren,

dafür und ganz kaputt die halbe Welt gewonnen.

Als Kommunistenketzer ward ich neu geboren.

Als Mann erst ist mein Kinderglaube mir zerronnen." 

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.